Worte
Rosa das Meerschweinchen lebte inmitten seiner Geschwister in einem liebevoll gestalteten Gehege. Dort gab es hohes Gras, Äste und Steine, wo sie sich gut verstecken konnten. So gut und dies zum Leidwesen von Rosa, dass Verstecken ihr liebstes Spiel war. Vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl vergnügten die Meerschweinchen sich damit, sich voreinander zu verstecken. Wer die anderen suchen musste, das war auch klar. Rosa! Ihr auffälliges Fell leuchtete durch jede noch so kleine Ritze und selbst durch Blätter schimmerte ihr rosafarbenes Fell. Den Geschwistern zuliebe spielte Rosa mit und fand sich damit ab, dass sie sich nicht vor den anderen verstecken konnte.
Eines Tages vergass der Junge, der sie morgens vor der Schule versorgte, das Türchen fest zu schliessen. Der Bus brummte bereits an der Haltestelle und der Junge musste diesen unbedingt erwischen, weil er sonst zu spät zur Schule kam. Die Meerschweinchen kümmerte dies nicht, gleich nach dem Essen spielten sie ihr liebstes Spiel. Anfänglich war es wie jeden Tage, bis plötzlich ein Fuchs im Gehege stand. Blitzschnell packte er Florian, den ungekrönten Versteckmeister, am Nacken und wollte schnell mit seiner Beute davonstürmen. Da fiel sein Blick auf Rosa. „Was bist du denn?“, fragte der Fuchs verblüfft. Florian plumpste aus dem Maul und blieb, starr vor Angst, auf dem Boden liegen. Rosa dachte nicht an Flucht. Wozu auch, der Fuchs würde sie eh finden. „Ich bin Rosa“, entgegnete sie leise. „Das sehe ich“, antwortete der irritierte Fuchs. Er näherte sich Rosa und beschnupperte sie. Er roch Angst. Aber sie schien ihm nicht so gross, wie die der anderen. „Warum hast du weniger Angst?“, fragte er misstrauisch. Rosa nahm ihren Mut zusammen und sagte: „Weil du bereuen wirst, wenn du mich frisst“. „Ach ja - und warum?“, fragte der Fuchs spöttisch. „Weil du dann auch rosa wirst und dich nicht mehr vor dem Jäger verstecken kannst“.
Mit dieser Antwort hatte der Fuchs nicht gerechnet. Er war sich gewohnt der Jäger oder der Gejagte zu sein. Das rosa „Ding“ verhielt sich ungewohnt. Was, wenn es so wäre und er rosa würde, fragte er sich verunsichert? Aber Füchse sind schlau!
„Dann fresse ich die anderen und dich lasse ich zurück“. Rosa stockte das Herz. Sie wusste, dass von ihrer Antwort alles abhing. „Ich war nicht immer rosa. Bei den anderen ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich verfärben. Du wirst bloss später als rosa Fuchs enden, wenn du meine Geschwister frisst“. Der Jagdtrieb im Fuchs wich dem Instinkt des Gejagten. Er stand schon zu lange in diesem Gehege. Herauszufinden, ob das rosa „Ding“ recht hatte oder nicht, schien ihm zu wenig lohnend. Er knurrte Rosa, mit einer Mischung aus Verwunderung und wohl auch ein wenig Bewunderung an und gehorchte seinem Instinkt, sich nicht in Gefahr zu bringen. Er flitzte aus dem Gehege in Richtung Wald. Das Glück wollte es, dass er mit dem Sprung vom Gehege auch gleich das Türchen schloss.
Als sich die Meerschweinchen beruhigt hatten und zögerlich ihre Verstecke verliessen, bildeten sie einen Kreis um Rosa und beschnupperten sie zärtlich. Seit diesem Tag ist Rosa glücklich damit, jene zu sein, welche die anderen sucht. Weil sie seitdem weiss, dass es für sie keinen Grund gibt, sich zu verstecken.